Wunstorf. Vor wenigen Wochen haben sich ca. 80 Fachkräfte verschiedenster Disziplinen zusammengefunden, um auf das wichtige Thema „psychische Krisen rund um die Geburt“ zu blicken, die Netzwerkstrukturen vor Ort zu stärken und Perspektiven zu besprechen..
„…Eine der Hebammen erklärt ihr, dass es dem Baby nicht gut geht und sie ihren Sohn per Saugglocke holen müssen. Jetzt soll Katja kräftig mitpressen, aber sie hat die Kraft nicht. Plötzlich steigt die Hebamme zu ihr aufs Bett und drückt mit voller Kraft auf ihren Bauch. Kurze Zeit später ist es vorbei. Als man Katja das nasse schreiende Bündel auf den Bauch legt, spürt sie nur noch Leere…“
Im Konferenzsaal des Neustädter Krankenhauses ist es ganz ruhig geworden, als das Fallbeispiel vorgelesen wurde. Zu dem Netzwerktreffen hatten die Lenkungsgruppen der Frühen Hilfen aus Wunstorf und Neustadt gemeinsam eingeladen. Neben Gynäkologen, Hebammen sowie Personal von den Geburtsstationen haben auch Psychologen, Mitarbeiter aus der Kinderbetreuung und Fachkräfte aus Beratungsstellen sowie dem Jobcenter den Abend interessiert verfolgt.
Etwa jede fünfte Frau erkrankt rund um die Geburt an einer psychischen Erkrankung: Im Jahr 2023 gab es bundesweit 692.989 Geburten, wovon ca. 138.500 Frauen von einer psychischen Erkrankung betroffen waren. Die Dunkelziffer der Familien, die sich alleine durchkämpfen und nicht erfasst werden, ist noch viel höher. „An den Zahlen sieht man sehr gut, dass es sich nicht nur um ein seltenes Phänomen handelt, sondern eine der am häufigsten auftretenden Erkrankung rund um die Geburt sein kann.“ In ihrer Begrüßung macht Jessica Rabsch – Netzwerkkoordinatorin der Frühen Hilfen Wunstorf – auf die Notlage der betroffenen Frauen und Familien aufmerksam. Die Folgen einer unbehandelten psychischen Erkrankung können nicht nur das Leben der Frau belasten, auch die Partnerschaft und die Beziehungen leiden darunter, aber insbesondere die Entwicklung des Kindes kann dadurch gestört werden. Gerade für die Kinder ist in den ersten Lebensjahren eine sichere Bindungsperson überlebenswichtig, um sich körperlich, geistig und seelisch gesund zu entwickeln. Und genau da können Frühe Hilfen ansetzen: „Indem Belastungen frühzeitig wahrgenommen werden, erste Ansprechpersonen für betroffene Familien da und greifbar sind sowie als Brücke zu weiterführenden Angeboten fungieren“, so Kristina Quakulinsky, Leitung des Koordinierungszentrums Frühe Hilfen – Frühe Chancen, der Region Hannover, in ihrem Grußwort.
Nach einem bemerkenswerten Fachvortrag von Dr. Wolf Lütje – Präsident der DGPFG (Deutschen Gesellschaft für psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe e.V.) und Mitglied im Beirat des NZFH (Nationalen Zentrums der Frühen Hilfen) hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit, im Rahmen einer Podiumsdiskussion die Perspektiven der Fachkräfte vor Ort kennenzulernen. Hier lag der Fokus auf den Fragen, wie Familien in psychischen Krisen rund um die Geburt wieder stabilisiert werden können und wie Synergieeffekte im Netzwerk zur gemeinsamen Unterstützung ressourcenschonend genutzt werden können. Neben dem Referenten Dr. Lütje diskutierten auch der Chefarzt der Geburtshilflichen Abteilung des KRH Klinikum Neustadt - Dr. Sommer, die Babylotsin aus dem Neustädter Klinikum – Frau Andrea Hauenschild, Frau Silvia Vihs - Koordinatorin der Hebammenzentrale der Region Hannover, Frau Corinna Berzenjie - Psychologin und Frühe Beraterin aus der Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche der Region Hannover sowie Dr. Angelstorf - Psychotherapeut aus der KRH Psychiatrie Wunstorf mit.
Sowohl Dr. Lütje als auch Dr. Sommer bestätigten, wie wichtig es ist, alle Frauen beim Erstkontakt in der Schwangerschaft auf psychische Belastungen zu screenen, um den Familien frühzeitig eine passende Unterstützung an die Hand geben zu können. Frau Berzenjie beendete die Podiumsdiskussion mit dem Statement: „Um ein Kind groß zu ziehen, braucht es ein ganzes Dorf. Wir müssen Dörfer schaffen!“.
Dieses Statement bekräftigt auch das Ziel des Abends und der Netzwerkarbeit in den Frühen Hilfen: Das Zusammenwirken und -arbeiten der verschiedenen Versorgung- und Unterstützungssysteme bewirkt den Aufbau eines wahren, echten und handhabbaren Netzes, welches Fachkräften die Arbeit um ein Vielfaches erleichtert und vor allem Eltern auffängt, stärkt und Schutz bietet.